Es gäbe so viel zu sagen über die jüdische Dichterin, die wie kaum eine andere die Literatur der „Neuen Sachlichkeit“ geprägt hat. Doch außergewöhnlich greifbar wurde die Autorin kürzlich im Rahmen einer musikalischen Lesung in der reformierten Kirche St. Johannis in Vlotho. Ein Verdienst der Künstlerin Ursula Kurze, die die Lebenslinien von Mascha Kaléko nachgezeichnet und ihre Poesie durch eigene Vertonungen zum Leben erweckt hat.
1907 als Kind russisch-österreichischer Eltern in Galizien geboren, findet Mascha Kaléko in den 1920er Jahren ihre Heimat in Berlin. Hier erfahren ihre literarischen Anlagen fruchtbare Impulse; 1933 erscheint ihr Erstling im Rohwohlt-Verlag, „Das Lyrische Stenogrammheft“. Die Wirren des zweiten Weltkriegs verhindern weiteren schriftstellerischen Aufstieg in Deutschland; eine Emigration in die USA mit ihrem zweiten Ehemann und Sohn aber beeinflusst ihr weiteres literarischen Schaffen nachhaltig. Durch harte Schicksalsschläge geprüft, siedelt Mascha Kaléko 1966 nach Israel über. 1975 verstirbt sie in der Schweiz; ein Lebensabend im geliebten Berlin war ihr nicht mehr möglich.
Ursula Kurze hat mit viel Einfühlungsvermögen Meilensteine aus der Biografie der Schriftstellerin herausgegriffen und in klarer, akzentuierter Sprache vorgetragen. Unverkennbar bereits nach den ersten Sätzen, dass die Künstlerin aus Dresden über ein Schauspielstudium verfügt. Mehr noch: Gesang und Konzertgitarre hat Ursula Kurze ebenfalls studiert. Für ihre Zuhörer hat sie all ihre eigene, musikalisch-poetische Kraft in die Wiedergabe von Kalékos Gedichten gelegt und so den Zuhörern ein besonders intensives Eintauchen in die Stimmung der Verse ermöglicht.
„Alle sieben Jahre wandelt sich Dein Leben“, war der Abend überschrieben. Dieses Thema zog sich wie ein roter Faden durch die Lesung: Umbrüche, Krisen, Neuanfänge hat Mascha Kaléko durchlebt – und schriftlich festgehalten. „Ich war kein einwandfreies Mutterglück“, äußert die Dichterin selbstkritisch in dem als „Interview mit mir selbst“ überschriebenen Text.
Ein Hauch von Melancholie durchzieht all ihre Schriften, wenngleich die Autorin der Welt um sich herum mit wachem und zeitkritischem Blick begegnet. Feine, zarte Klänge findet Ursula Kurze dafür auf ihrer Konzertgitarre; ihre Stimme moduliert sich vom empfindsamen Chanson-Charakter („Wenn Du mich einmal nicht mehr liebst“) zur aufbrausenden Interpretin („Jage die Angst fort und die Angst vor den Ängsten“).
Die eigenwillige Einzelerscheinung dieser ungewöhnlichen Dichterin weiß Ursula Kurze wunderbar in all ihren Facetten zu greifen. Da ist einerseits ihre gelungene Vertonung des so sachlichen Gedichts „Großstadtliebe“, auch sind da die detailreichen Schilderungen des Berliner Lebens („Die Arbeit marschiert in den Straßen“), die Ursula Kurze so wunderbar musikalisch einfängt. Dann wieder versteht es Ursula Kurze, zum Beispiel Verse über einen einsamen Abend mit so gedämpfter Stimme in den Raum zu schicken, dass es unweigerlich betroffen macht: „Die Ecken sind mit Schatten ausgefüllt / ich bin allein mit meinem Spiegelbild“.
Das letzte Zitat der Künstlerin: „Mein schönstes Gedicht? Ich schrieb es nicht. Aus tiefen Tiefen stieg es. Ich schwieg es“. Mit dankbarem Applaus für den eindrucksvollen Konzertabend haben sich die Zuhörer in der gut gefüllten St. Johannis-Kirche von Ursula Kurze verabschiedet.