Es menschelt sehr im Hause Luther: Lesekonzert “Bist Du Dir sicher, Martinus?” in St. Stephan

Erstellt am 09.11.2022

Sein Stuhl blieb leer, aber der große Reformator war präsent, wenn auch zurechtgestutzt auf ein menschlicheres Maß. Beim Lesekonzert als Teil der Reihe “Musik zur Marktzeit” in Vlotho ließ Bernarda Gisinger seine Frau Katharina von Bora reden. Begleitet von Simone Gisinger-Hirn an der Violine, von Susanne Peuker an der Laute und vom Gesang des Kreiskantors József Opicz hörten die Besucher eine Stimme aus der Reformationszeit, die Zeitloses zu sagen hatte.

Katharina von Bora war vieles: Tochter aus sächsischem Kleinadel. Junge Oblatin im Zisterzienserkloster und bald unter dramatischen Umständen entsprungene Nonne. Leidgeprüfte Ehefrau und geschickte Managerin des immer größer werdenden Haushalts im Wittenberger Augustinerkloster. Die Lutherin.

Doch hinter all diesen Rollen verbirgt sich der Mensch Katharina von Bora, für die Bernarda Gisinger mit den imaginierten Dialogen aus Christine Brückners Buch “Wenn Du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen” stellvertretend zur Sprache kommt.

“Gott spricht zu mir auch in der Küche”

Der Vorarlberger Touch in der Stimme Bernarda Gisingers haucht ihrer Figur Leben und Persönlichkeit ein: Stolz über die Lebensleistung klingt an, ebenso wie eine Müdigkeit der von dem praktischen Dasein der Reformatorenfrau erschöpften Katharina, hatte sie doch nicht nur die religionspolitischen Sorgen der Reformation mit ihrem Mann zu tragen, sondern auch die praktische Seite der Haushaltung in Wittenberg, die einem nicht ganz kleinen Unternehmen entsprach. “Ich bin Martha und Maria zugleich”: Müde ist sie, und missverstanden fühlt sie sich. Sie erkennt sich nicht in den füchsischen Zügen von Cranachs Porträt wieder, und sie will ihre praktische Leistung nicht abgewertet wissen. Sie pflanze die Apfelbäume, von denen Luther immer predige: “Was ich tue, ist wie beten.”

Bernarda Gisinger lässt so aus dem Text einen Menschen mit allen Ecken und Kanten entstehen. Mit ihrem Hintergrund als Sprechtrainerin und Sprecherin beim ORF reicht der Österreicherin ein kleiner Wechsel in Ton und Stimmung, um glaubhafte Trauer über den Tod eines Kindes auszudrücken oder das hohe, manchmal auch überhöhte Selbstbewusstsein der wirtschaftlich erfolgreichen Frau adliger Herkunft, die sich ihrer Stellung und Leistung bewusst ist. Wie die historische Katharina von Bora, die mit der wirtschaftlich und hauswirtschaftlich weniger geschickten Katharina Melanchthon hart umging, gibt Bernarda Gisinger ihr auch im gedachten Zwiegespräch mit ihrem Martin manchmal eine unvermittelte Härte: “Bist Du denn mein Abt?” Doch sie versöhnt sich, bevor der Tag zu Ende geht, mit ihm und ihrem Leben, denn “den Teufel Unlust treibt man mit der Freude aus.”

Fünf Musikstücke strukturieren und begleiten Gisingers Vortrag. Die Auswahl schwankt wie die Stimmung der Lesung zwischen dem Ernst und der geistigen Höhe von Luthers Liedern, gesungen von József Opicz und von Susanne Peuker auf der Laute begleitet, und der Freude und Leichtigkeit von den virtuos und beschwingt vorgetragenen Tänzen von Michael Prätorius. Bewusst trugen Bernarda Gisinger und ihre Mitstreiter ihre Alltagskleidung für diesen Auftritt, denn trotz der 500 Jahre, die seit der Lebenszeit der Akteure und der Komposition der Musik vergangen sind, sind die in Katharina von Boras Mund gelegten Gedanken zeitlos und auch heute im Kleinen und im Großen aktuell.

Bernarda Gisinger machte aus der historischen Katharina von Bora einen Menschen mit Ecken und Kanten ein.

Bewusst in Alltagskleidung spielten Simone Gisinger-Hirn und Susanne Peuker Lieder und Tänze der Reformationszeit.

Mit bekannten Lutherkompositionen gab Kreiskantor József Opicz dem Reformator auch eine Stimme im Zwiegespräch.