Wer hätte gedacht, dass ein Barock-Titan und ein zeitgenössischer Meister-Geiger einander so viel zu sagen haben? Am Sonntag konnte das Publikum bei einem Kammerkonzert in St. Stephan eindrucksvoll erleben, wie es klingt, wenn der große Johann Sebastian Bach auf den nicht minder eindrucksvollen Komponisten Eugène Ysaÿe trifft - und wenn Orgel und Violine diese Begegnung in Töne kleiden. Kantorin Līga Auguste und ihr Gast, die Geigerin Felizia Bade, hatten ein anspruchsvolles Repertoire zusammengestellt, mit dem sie die Zuhörer in der gut gefüllten alten Klosterkirche überraschten.
Es war wenige Minuten vor achtzehn Uhr, da hörte man Bewegung auf der Empore; ein leises Knarren der Holzdielen verriet, dass Līga Auguste auf dem Weg zur Steinmann-Orgel war. Jetzt wurde es automatisch still im Kirchenschiff. Dann ertönten die ersten Takte aus dem ansteigenden Allegro des d-moll-Konzerts von Johann Sebastian Bach. Vorlage dafür sei ursprünglich ein Violin-Konzert von Vivaldi gewesen, dessen letzten Satz Bach für die Orgel adaptiert habe, erfuhren die Zuhörer von der Organistin. „Wieso haben wir Bach mit Ysaÿe verknüpft?“, diese Frage warf Līga Auguste ihren Zuhörern zu, denn man musste annehmen, dass nicht viele unter ihnen wären, die den belgischen Geiger und Komponisten des vorherigen Jahrhunderts gekannt haben dürften. Was für eine gute Idee war es da gewesen, dass die Kantorin und die Geigerin gemeinsam bei einem Tee entschieden hatten: Wir bringen unseren Zuhörern diese „Verwandtschaft“ näher und zeigen den roten Faden, der ihre kammermusikalischen Werke verbindet.
Los ging`s mit Bachs dreisätzigem Concerto in a-moll. Bei dessen spritzigem Allegro tänzelten Orgel und Violine behände umeinander; ein schwungvoller Klang erfüllte das Kirchenschiff. In großer Ruhe und mit feiner Eleganz ging es durch den zweiten, lyrischen Satz, bevor das finale Allegro assai an die Frische des ersten Satzes anknüpfte: In verspieltem Dialog plauderten die beiden Instrumente miteinander in barocker Heiterkeit.
Dem folgte ein formschönes Solo aus Bachs Violin-Sonate C-Dur, für das Felizia Bade mit stürmischem Applaus belohnt wurde. Alles strömt und fließt bei Bach, strebt himmelwärts, wie man meinen möchte. So auch die prächtige Sinfonia aus der Kantate „Wir danken Dir, Gott“, die Līga Auguste eindrucksvoll an der Orgel präsentierte.
Ein nun folgender Konzertteil widmete sich den Werken von Eugène Ysaÿe. Der große belgische Geigen-Virtuose hatte selbst mehrere Sonaten für bekannte Violinisten seiner Zeit komponiert. So die 2. Sonate, die Jaques Thibaud gewidmet war. In diesem anspruchsvollen Stück, großartig interpretiert von Felizia Bade, wartete man vergebens auf eine kantable Grundströmung. Stattdessen gab es ein Werk von ganz eigener Dramatik und bizarren Farben, dessen Sätze wie Momentaufnahmen einer Gemütsverfassung aneinandergereiht waren. Im furiosen letzten Satz, der die Überschrift „Die Furien“ trägt, war der Name Programm: In wildem Strich fegte Felizia Bade mit dem Bogen über die Geige, bis die Saiten glühten. Rauschender Applaus und Bravo-Rufe waren der Lohn für diese besondere Leistung.
Danach wurde es ruhiger: Zwei Wiegenlieder, darunter die bekannte Berceuse von Gabriel Fauré mit ihrer lieblichen Grundnote, läuteten den Ausklang des Konzerts ein, der mit Ysaÿes „Reve d’enfant“ schließlich seinen Abschluss fand.
In eindrucksvollem Gleichklang meisterten die beiden Musikerinnen das Zusammenspiel, für das offensichtlich nur kurze Blickwechsel ausreichten, um die Harmonie und den „Flow“ zwischen ihren Instrumenten zu sichern. Ein Konzertabend, der vom Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert wurde.