Nirgends einen Halt: Ursula Kurze präsentiert den getriebenen und vertriebenen Heinrich Heine in Vlotho

Erstellt am 23.09.2022

Eine Konzertgitarre, ein Heft, ein kleines Licht reichen: Die Dresdner Künstlerin Ursula Kurze hat mit einfachen Mitteln, aber technischer Virtuosität und stimmlicher Wucht den Lebensweg Heines musikalisch nachgezeichnet. Ihr Auftritt in der reformierten Kirche St. Johannis in Vlotho am 21. September war für die Organisatoren, Winfried Reuter für den Arbeitskreis Juden und Christen im Kirchenkreis Vlotho und Hartmut Peltz für die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Herford e.V., ein voller Erfolg.

“Wer war Heinrich Heine? Sicher nicht der unkritische Kommunist, den sie uns in der Schule präsentiert haben”, sagt die in der DDR aufgewachsene Künstlerin. Frühsozialist war er, aber auch skeptischer Warner vor allen Massenbewegungen mit ihrem Hang zur Gewalt, zum “deutschen Donner”. Politisch engagierter Dichter und lyrisch feinsinniger Journalist, Reiseschriftsteller, Feuilletonist. Jude war er und Christ, zumindest auf dem Papier seines Taufscheins, für ihn das “Entre billet zur europäischen Kultur”.

Für Ursula Kurze und das Publikum in der gut gefüllten Kirche St. Johannis ist der musikalisch-literarische Abend daher auch eine Suche nach dem wahren Heine, der - soviel sei verraten - auch am Ende noch verborgen bleibt. Die an der Hochschule für Musik in Weimar ausgebildete Konzertgitarristin, Sängerin und Komponistin hat sich erst in der Corona-Zeit auf Heine eingelassen, auch wenn er nahtlos in ihre früheren literarischen Erkundungsprogramme passt, in denen sie die Querköpfe der deutschen, oft jüdisch-deutschen Literatur erforscht: Tucholsky etwa, Rose Ausländer oder die noch unentdeckte Selma Meerbaum-Eisinger. Und jetzt Heine.

Im aufgeklärten, bürgerlichen, assimiliert-jüdischen Milieu des französisch besetzten Düsseldorf aufgewachsen wurde Heine in seiner jüdischen Herkunft oft nur von denen wahrgenommen, die ihn darüber hassten. Er wurde zum Pionier der modernen deutschen Literatur: Romantiker und Überwinder der Romantik, Essayist, genauer Beobachter und scharfzüngiger Satiriker, und letztlich mit Publikationsverbot und Exil gestrafter politischer Journalist. Den vermeintlichen Vaterlandsverrat verziehen ihm nationalistisch gesinnte Zeitgenossen und spätere Generationen nicht. Mit erschreckender Vorahnung schrieb er im “Almansor”: Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen. Und 1933 brannten seine Bücher, und im besetzten Paris sollte sein Name vom Grab getilgt werden. “Deutschland versteht sich auf Rache”, resümiert Ursula Kunze.

Spottgesang, Kampflied, Liebesklage: Welcher Heine singt da?

Ursula Kurze leitet das Publikum über 15 lyrische Stationen durch Heines Leben, immer wieder unterbrochen von kurzen musikalischen Einlagen aus seiner Zeit. Ihr Repertoire reicht von fingerfertigem Gitarrenzauber zum feinfühlig lyrischen Vortrag oder fast Weill’schem Sprechgesang, aber mit dem ironischen Touch Heines aufgelockert. Als Arbeiterkampflied intoniert sie die “schlesischen Weber”, und der Takt ihrer Schläge auf die Gitarre hallt bedrohlich durch das Kirchenschiff. Die “Nachtgedanken” werden aus ihrer verkürzt volkstümelnden Rezeption ins rechte Licht gerückt: Nicht das fahnenschwenkende Vaterland von Winter- oder Sommermärchen, sondern einfach die arme alte Mutter wird hier zum Thema einer tief persönlichen Tragödie. Heines letzte Jahre sorgen, von Krankheit geprägt, für dunkle Töne, auch wenn er sie selbstironisierend verarbeitet: “In meinem Hirne rumort es und knackt, ich glaube da wird ein Koffer gepackt, und mein Verstand reist ab - o wehe - noch früher als ich selber gehe.” Doch immer wieder in Ursula Kurzes Auswahl von Heine-Gedichten scheint dann doch der liebende Heine durch, der in seiner französischen Ehe Glück und Frieden fand.

Das letzte Stück des Abends “Wo wird einst des Wandersmüden letzte Ruhestätte sein?” ziert Heines Grab auf dem Friedhof Montmartre. Ursula Kurze lässt das “Wo?” lange nachhallen. Wo verorten wir Heine? Im freisinnigen Düsseldorf seiner Jugend, an Marx’ Seite in der Redaktion der Neuen Rheinischen Zeitung, als romantischen Dichter auf Harzwanderschaft oder als sich vermeintlich nach seinem Vaterland sehnenden Exilanten in der Pariser Matratzengruft? Ursula Kurze scheint ihre Sicht anzudeuten: Als humanistischer Individualist mit seiner Frau Mathilde im “französisch heit’rem Tageslicht”.

Ursula Kurze spielt und singt mit feiner Ironie, aber auch echter Intensität

Das Publikum in St. Johannis konnte einen musikalisch ansprechenden Abend genießen