Schnee und Eis hatten Vlotho fest im Griff, als in St. Stephan das Jahreskonzert der Kantorei auf sein Publikum wartete. Und adventlich ging es auch in der Kirche weiter, denn Adventslieder aus gleich drei Epochen standen auf dem Programm des in jeder Hinsicht erfolgreichen Abends. Fast 200 Besucher erlebten eine außergewöhnliche musikalische Entdeckungsreise mit dem Chor der Kantorei und dem Orchester Opus 7.
Kantorin Līga Auguste hatte für den Abend ein herausforderndes Programm zusammengestellt, das dem Vlothoer Publikum neue Hörerlebnisse bot. Denn jenseits des abschließenden „Tollite hostias“ des Weihnachtsoratoriums waren viele Stücke des anspruchsvollen Programms oft nur dem Kenner vertraut.
Selbst Bachs Kirchenkantate „Schwingt freudig euch empor“ (BWV 36), die den Abend eröffnete, hatte Verstörungspotenzial, konnte das Werk von 1731 doch seine eigene Geschichte als schon einige Jahre älteres, recyceltes weltliches Stück nicht verbergen. Im Vergleich zu den gewohnten Klängen des zehn Jahre jüngeren Weihnachtsoratoriums von Bach hat die Kantate, besonders in den eher zurückgenommenen Partien, in den Holzbläser und Orgelpositiv die Richtung vorgeben konnten, eine überraschend anachronistische Note. Für das Orchester Opus 7 und den Chor der Kantorei war es dennoch ein perfekte Gelegenheit, sich in den Abend hinein zu singen und zu spielen. Dies taten sie mit soviel Freude am Stück, dass das Publikum das abrupte Ende und den rechten Moment für Applaus verpasste.
Auf Bach folgte das Wagnis des Abends: Benjamin Brittens „A Ceremony of Carols“, eine Auswahl mittelalterlicher und reformationszeitlicher Gedichte, die der britische Komponist auf eine gleichzeitig konservative und avantgardistische Art vertonte, die über Jahrzehnte die Entwicklung der englischen Kirchenmusik bestimmte. Für die von einem eigens zusammengestellten Vokalensemble gesungenen und hauptsächlich von der Harfe begleiteten Stücke war viel Probearbeit nötig, die sich jedoch am Abend mehr als auszahlte: Mit Begeisterung nahm das Publikum die ungewohnten Klänge auf und ließ sich auf die Erfahrung ein. Besonders das adventlich freudige „Wolcum yole“ und das fast athletisch gesungene, inhaltlich martialische „This little babe“ begeisterten die Besucher.
Zwischen Britten und Saint-Saëns hatte Līga Auguste der für diesen Abend nach Vlotho gekommenen Harfenistin Charlotte Michels einen besonderen Leckerbissen eingeplant. In Grandjanys „Arie im klassischen Stil“ von 1937 war alle Konzentration auf die Harfe gerichtet, und Charlotte Michels zeigte ihr ganzes Können im Stück des Komponisten im selbstgewählten amerikanischen Exil, das sich musikalisch irgendwo zwischen alter und neuer Welt verortete.
„Musique de Noël“ war der Abend überschrieben, und mit französischer Weihnachtsmusik endete er: Camille Saint-Saëns Werk von 1858 zeigte einen ganz anderen Angang an die Form des Weihnachtsoratoriums als die historischen Vorbilder des französischen Komponisten. Zwar schwebt Bachs Weihnachtsoratorium als quasi genrestiftendes Modell über allem, und auch Mozart klingt durch, so im Zusammenspiel von Bariton und Streichern, doch Saint-Saëns drückte eine ganz andere, meditative Art in seinem Werk aus. Immer wieder fingen sich Orchester, Chor und Solisten in ihren wechselnden Partien gegenseitig ein, und nur ganz langsam, aber dann unaufhaltsam steigerte sich die Spannung zum Ende des Oratoriums, wo dann alles im beliebten „Tollite hostias“ endete - gesungen und gespielt mit solcher Leidenschaft, dass Kantorin Līga Auguste zum Abschluss des Abends nicht darum kam, entgegen ihren Plänen das letzte Stück als Zugabe zu wiederholen.
Besonders für Tenor Sören Richter war der Abend, nach gerade überstandener Krankheit, eine sportliche Leistung. Bei Bachs Kirchenkantate noch hörbar vorsichtig, hatte er sich in den Solopartien von Saint-Saëns Weihnachtsoratorium warmgesungen und überzeugte besonders beim „Domine, ego credidi“ mit seiner bühnentauglichen Klarheit. Mathis Koch, ein alter Bekannter in Vlotho, brillierte mit gewohnter Professionalität und Präsenz. Sopranistin Katja Vorreyer, die erst im Frühjahr ihr Grundstudium an der Hochschule für Kirchenmusik abgeschlossen hat, begeisterte das Publikum am ganzen Konzertabend, aber besonders in den Solo- und mehrstimmigen Partien bei Saint-Saëns mit ihrer klaren und raumfüllenden Stimme. Doch war eine echte Entdeckung des Abends Anna Padalko, deren Altpartien besonders im direkten Vergleich mit József Opicz wirkten: hier glasklare Diktion und stimmliche Akrobatik beim Kreiskantor, dort überraschende Wärme und Weichheit bei der Petersburger Lied- und Oratorienspezialistin.
Die größte Überraschung des Abends war jedoch das eigens für Brittens „A Ceremony of Carols“ zusammengestellte Vokalensemble der Kantorei. Mit Mut hatten die Sängerinnen und Sänger Brittens Herausforderung angenommen, und sie lieferten ein perfektes Ergebnis ab: Stimmlich präzise und ausdauernd und ohne Scheu vor den ungewohnten mittelenglischen und lateinischen Texten erinnerte ihr Auftritt an die englischen Kathedralchöre mit ihrer ganz eigenen Stimmfarbe.
Die „Musique de Noël“ war für alle Beteiligten ein voller Erfolg: „Wer heute Abend nicht hier war, der hat etwas verpasst“, hieß es aus dem Publikum.