
12/09/2025 0 Kommentare
Brüchige Realität und tragende Verheißung
Brüchige Realität und tragende Verheißung
# Andacht

Brüchige Realität und tragende Verheißung
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht.“ Mit diesen Gedanken des tschechischen Staatsmannes und Dichters Vaclav Havel lässt sich etwas erahnen von der Spannung, in der wir alle Leben: zwischen brüchiger Realität und tragender Verheißung. Hoffnung ist kein billiger Optimismus, sie ist vielmehr die Kraft, die uns aufrecht hält, wenn das Leben selbst uns niederdrücken will.
Wir Menschen leben „verletzlich“. Das ist nichts Außergewöhnliches, sondern unsere tägliche Wirklichkeit. Eine Krankheit, ein Unfall, eine Nachricht vom Arzt – und das Leben ist nicht mehr, wie es vorher war; nur ein Augenaufschlag schafft eine neue Wirklichkeit. Ich erlebe dies in meinem Alltag als Klinikseelsorger. Plötzlich zeigt sich, wie zerbrechlich wir sind, wie wenig wir eigentlich in der Hand haben.
Auch die täglichen Nachrichten aus der Welt erzählen uns davon: Kriege, Naturkatastrophen, Menschen auf der Flucht. Es scheint, als würde unsere Verletzlichkeit uns unausweichlich vor Augen geführt.
Genau darin liegt für den Glauben die große Herausforderung: Wie kann ich Gott vertrauen, wenn alles so unsicher und brüchig ist? Glaube zeigt sich nicht dort, wo alles glatt läuft, sondern da, wo ich mit meiner Schwäche leben muss, mich dieser Schwäche ausgeliefert fühle – und dennoch Halt suche. Glauben ist eben nichts für Feiglinge, liebe Leserinnen und Leser.
Das Wort für die vor uns liegende neue Woche will uns einen solchen Haltepunkt anbieten: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, den glimmenden Docht nicht auslöschen.“ (Jesaja 42,3) Ein Wort aus längst vergangener Zeit, aber in der Erfahrung des damaligen jüdischen Volkes in der ausweglosen Gefangenschaft auch für uns heute genauso ansprechend.
Gott sah, und er sieht unsere Verletzlichkeit. Er geht nicht einfach an dieser tiefsten Erfahrung unseres Menschseins vorbei. Er will uns mit dieser Gewissheit trösten. Und er geht noch weiter: In Jesus Christus hat er selbst unsere Verletzlichkeit an seine Existenz gebunden. Er selbst hat am Kreuz Schmerz, Angst, Ohnmacht und Tod erlitten. So ist er einer von uns geworden. Es bleibt ein Geheimnis des Glaubens. Darum heißt Glauben nicht: Alles wird gut: Sondern: Alles ist gehalten, auch das Zerbrochene und Verletzliche in unserem Leben.
Der Schriftsteller Albert Camus hat es so gesagt: „Inmitten des Winters entdecke ich, das in mir ein unbesiegbarer Sommer liegt.“ Das ist die Hoffnung des Glaubens. Damit wird nicht alles besser, aber es kann anders werden. Mitten in der Kälte unserer Verletzlichkeit scheint Gottes liebende Wärme auf, die Kraft geben will, gerade in dunklen Zeiten, um die Spuren des Lebens zu entdecken, wieder zu entdecken.
Zuerst erschienen im Westfalen-Blatt, 6. September 2025
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