Mythos in d-Moll: Mozarts Requiem zum Ewigkeitssonntag in St. Stephan

Erstellt am 08.10.2022

Bach, Mozart, Hindemith: Die Kantorei St. Stephan bringt am 20. November drei Giganten der Musikgeschichte in die Vlothoer Stadtkirche. Die drei so unterschiedlichen Stücke des Abends einen nicht nur ihre musikalische Qualität und Popularität, sondern auch die ungewöhnlichen Umstände ihrer Entstehung: Kompositorische Kraftakte, ungelöste Rätsel und Schicksalsschläge förderten die Mythenbildung um die Werke und ihre Schöpfer.

Līga Auguste, Kantorin an St. Stephan, hat für das anspruchsvolle Programm orchestrale und stimmliche Unterstützung arrangiert: Neue Sängerinnen und Sänger verstärken den Chor der Kantorei, der bereits seit dem Sommer für dieses erste Orchesterkonzert nach langer Coronapause probt. Begleitet wird der Chor an diesem besonderen Abend vom Orchester OPUS 7 unter Konzertmeister Roger Burmeister, das in diesem Jahr sein 30. Jubiläum in der Aufführung sakraler und weltlicher Werke feiert.

Ursprünge im Dunkeln

Der Abend wird mit dem Cembaloconcerto d-Moll (BWV 1052) eröffnet, das sich mit der elementaren Kraft besonders des ersten und dritten Satzes einen Ruf als eines der wichtigsten Werke Bachs erobert hat. Doch die Ursprünge dieses barocken Klassikers liegen im Dunkel der Geschichte: Ist es ein eigenständiges Werk für ein Solocembalo oder eine Umarbeitung eines eigenen oder fremden Violinkonzerts? Auch die Entstehungszeit bleibt unsicher. Bach hatte Teile bereits in den 1720er Jahren in verschiedenen Kantaten verwendet, wie der berühmten Klagekantate “Wir müssen durch viel Trübsal” (BWV 146). Doch es brauchte einen königlichen Trauerfall, bevor das Werk in der heutigen Form überliefert werden konnte: In den Monaten der Staatstrauer nach dem Tod August des Starken Anfang des Jahres 1733 ruhte die öffentliche Musikszene in Leipzig. Bach beendete diese verordnete Stille mit einer kleinen Sensation, einer neuen Konzertreihe, “der Anfang mit einem schönen Concert gemachet und wöchentlich damit continuieret werden, dabey ein neuer Clavicymbel, dergleichen allhier noch nicht gehöret worden.” Wahrscheinlich mit dabei: Das Cembaloconcerto d-Moll, das in der 1738 festgehaltenen Fassung seit bald 300 Jahren in Fassungen für verschiedene Tasteninstrumente nicht mehr aus dem Repertoire wegzudenken ist; in St. Stephan übernimmt Kantorin Līga Auguste selbst die anspruchsvolle Aufgabe an der Orgel. 

In sechs Stunden in die Musikgeschichte

Zwei Jahrhunderte später beeinflusste wieder ein royaler Sterbefall die Musikgeschichte. Paul Hindemith, vom nationalsozialistischen Regime angefeindet und schon kurz vor der Emigration stehend, besuchte 1936 London für die britische Erstaufführung seines Konzerts “Der Schwanendreher”. Doch der Tod Königs George VI. am Vorabend verlangte ein spontanes Umdenken. Hindemith brauchte einen einzigen Nachmittag in einem Büro der BBC, um die kurze, aber thematisch raffinierte Trauermusik zu schreiben und noch am selben Abend einzuspielen. “Es war etwas Mozartisches” an dieser rekordverdächtigen Leistung, sagte Hindemiths Freund und Förderer Werner Reinhart: In nur sechs Stunden an einem Tag der Trauer hatte Hindemith sich in die britische Geschichte eingeschrieben.

Monumentalwerk und Mythenmacher

“Lacrimosa dies illa” - Ein tränenreicher Tag war auch der 5. Dezember 1791. Mozarts Tod ließ seine letzte Komposition, das Requiem in d-Moll (KV 626), unvollendet zurück. Nach nur acht Takten des “Lacrimosa” bricht die lückenhafte und nicht voll ausgearbeitete Partitur plötzlich ab.

Fast sofort entbrannte der Streit um seine Deutung und Bedeutung. War das unter mysteriösen Umständen vom Grafen Franz von Walsegg anonym in Auftrag gegebene Requiem nur eine von den Zufällen der Zeit in mythische Höhen gehobene Routinearbeit, oder war es ein Vorzeichen, eine Vorahnung von Mozarts zu frühen Tod - sein eigenes Requiem? Mozarts Freund und künstlerischer wie geschäftlicher Partner Schikaneder brachte das unfertige Werk zu Mozarts Trauerfeier zur Uraufführung und förderte damit einen Mythos, der sich besonders durch Miloš Formans Filmerfolg “Amadeus” ins allgemeine Bewusstsein eingeschrieben hat.

Für Līga Auguste ist das Chor- und Orchesterkonzert die Krönung nach Monaten der Planung und intensiven Vorbereitung. Der Vorverkauf für den Konzertabend in St. Stephan beginnt am 31. Oktober; Karten (17€ und 20€, ermäßigt 10€; Platzkarten vorbestellbar) sind im Gemeindebüro St. Stephan und beim Stadtmarketing Vlotho erhältlich. Proben sind für den 22. Oktober und 5. November, jeweils von 14 bis 18 Uhr, geplant.

Der Chor der Kantorei St. Stephan in Vlotho (Archivbild)