Pünktlich zum Ende des Kirchenjahres ist der Winter in Vlotho angekommen. Bei Minusgraden geht es hoch zur Kirche St. Stephan, doch letztendlich sind es nicht nur die 240 Besucher im Publikum, die das Thermometer ein paar Grad ansteigen lassen: Mit Mozart, Bach und Hindemith geht es auch musikalisch hoch her.
Der Konzertabend wird, ohne Umschweife oder Einleitung, von Kantorin Līga Auguste und dem Orchester OPUS7 mit Bachs Cembalokonzert d-Moll (BWV 1052) begonnen. Der erste und dritte Satz des Stücks sind bekannt und populär; schon Bach hatte Motive aus ihnen für zwei seiner Kantaten (BWV 146 und 188) zweitverwendet. Doch ist es an diesem Abend des Ewigkeitssonntags besonders der zweite Satz, dessen Kargheit eine überraschend wirkungsvolle Trostlosigkeit ausdrückt. Lange lässt Līga Auguste diese Stimmung jedoch nicht in St. Stephan hängen. Sie wirft sich stattdessen mit Brio in den dritten Satz, dass es sie fast nicht mehr auf ihrem Sitz hält. Zurecht lautstark ist schließlich der Applaus, den die Kantorin freudestrahlend entgegennimmt.
Līga Augustes Wahl des Orgelpositivs als Tasteninstrument für das Cembalokonzert bringt spannende neue Hörerkenntnisse: Es drängt sich nicht vor das Orchester, aber es hat dennoch eine unüberhörbare Stimme, die nicht im metallischen Glitzern eines Cembalos verschwimmt. Stattdessen tritt jeder Ton mit absoluter, fast elektronischer Klarheit auf und macht die komplexe Struktur der Tonfolgen nur noch erstaunlicher. Die Musik läuft scheinbar unaufhaltsam weiter, manchmal in langen, komplexen Linien, manchmal in klar voneinander getrennten Phrasen, bei deren Wechseln der Hörer oft innehalten muss. Der Laie merkt, dass hier etwas Außergewöhnliches geschehen ist, als die anderen Musiker der Kantorin später zu ihrer Konzentrationsleistung gratulieren.
Die Stimmung ändert sich, als Alexandra Herdieckerhoff, Bratschistin beim Orchester OPUS7 und engagierte Musikpädagogin aus Detmold, an die Seite der Kantorin tritt. Ihre Interpretation von Hindemiths Trauermusik von 1936 gibt dem Publikum Luft, aber zieht es gleichzeitig mit seiner ganz eigenen Gefühlswelt in den Bann. Hindemith, selbst Bratschist, hat in der Trauermusik und anderen Werken seinem Lieblingsinstrument eine Präsenz gegeben, die ihm in früheren Zeiten oft verwehrt blieb. Einen Hauch unter der manchmal plakativen Emotionalität der Violine, aber nicht in der chthonischen Tiefe von Trauerstücken auf dem Cello, entsteht in Hindemiths Werk eine gesetzte, unaufgeregte, fast englische Emotionalität. Die vier kurzen Sätze des Stücks gehen ineinander über, aber markieren, jeder für sich, klare Phasen und Stimmungen. Alexandra Herdieckerhoff und Līga Auguste lassen die Trauermusik in einem Moment der Stille enden, der einen Augenblick länger anhält, als das Publikum intuitiv erwartet. Es wird ein Augenblick des Innehaltens an diesem Ewigkeitssonntag: “An diesem Abend muss ich auch an all jene denken, die heute nicht mehr bei uns sein können”, sagt auch Torsten Willimczik, Pfarrer in Porta Westfalica und Mitsänger beim darauffolgenden Requiem.
Bei drei so unterschiedlichen und technisch anspruchsvollen Stücken wäre es ungerecht, ein Highlight des Abends zu bestimmen, doch Mozarts Requiem in d-Moll wird abschließend zu einem eigenen musikalischen Ereignis. Das Orchester OPUS7 und die fünfzig Sänger und Sängerinnen des jüngst verstärkten Chors der Kantorei geben dem Werk eine Wucht, die selbst in den großzügigen Dimensionen der Kirche St. Stephan mehr als raumfüllend wirkt. Wie schon beim Bach geht Līga Auguste das Requiem mit viel Energie an und legt ein außergewöhnliches Tempo vor. Doch bei all diesem Vorwärtsdrängen bleiben weder emotionale Tragweite noch Präzision auf der Strecke. Auf den Punkt drücken Chor und Solisten die Stimmungswechsel des Requiems aus: Die stille Bitte um ewigen Frieden, die Wucht des letzten Gerichts, den sicheren Glauben an die Erlösung. Besonders die Sequenz des “Dies irae” wirkt nicht wie ein monolithisches, einstudiertes Chorstück, sondern wird fast zu einem szenischen Spiel, wenn die einzelnen Stimmen in einen gedachten Dialog miteinander und mit Gott, dem Richter, treten.
Gerade durch seine dramatische Struktur gibt Mozarts Requiem den Solisten immer wieder einen Moment, um ihr Können zu beweisen, und Līga Auguste hatte ein exzellentes Team für den Abend zusammengestellt. Besonders die Sopranistin Irina Trutneva hat Gelegenheit, die Kraft und emotionale Spannweite ihrer Stimme zu beweisen, nicht zuletzt im abschließenden “Lux Aeterna”. Altistin Nina Doormann und der Bass-Bariton Mathis Koch bringen eine besondere Wärme in ihre Parts, oft im Zusammenspiel mit einer anderen Stimme. Doch als eine Entdeckung des Abends kann Tenor Simon Jass gelten, der mit seiner charakterstarken Stimme bei jedem Einsatz ein Ausrufezeichen setzt.
Als das Publikum sich zum minutenlangen Applaus von den Bänken erhebt, ist den vielen Beteiligten der Stolz und die Freude über den gelungenen Abend sichtlich anzusehen. Monate der Arbeit im Hintergrund und unzählige Proben liegen hinter ihnen. Doch für sie und für die Kantorei St. Stephan als kultureller Kraft in Vlotho haben die Mühen sich mehr als gelohnt.