„Lommer jonn, sagte der Großvater, lasst uns gehen“ – so beginnt das Buch „Das verborgene Wort“ von Ulla Hahn. Es geht ans Rhein-Ufer, hinunter an den Fluss, wo die beiden Enkel mit dem Großvater wunderbare Stunden erleben. Wellen und Bäume sprechen, Steine werden zu Zwergen, Prinzessinen und Königen, Schilfrohr zu Flöten.
Dann gibt es noch diese besonderen Steine. Buch-Steine. Wenn sie ins Flusswasser getaucht oder mit dem Finger befeuchtet werden, erkennt man „feine weiße Linien in ihnen, immer wieder unterbrochen, ineinander verschlungen, sich kreuzend.“ Diese Steine sind beschrieben! Der Großvater kann ganze Geschichten von ihnen ablesen.
Hildegard will wissen, wer sie beschrieben hat. „Na, watt jlövs du dann?“, fragt der Großvater, was glaubst du denn? Die stockende Antwort des Mädchens: „Dä, dä leeve Jott?“ Ja, der liebe Gott hat doch alles geschaffen, also auch die Buchsteine und all die Geschichten, die sich darin finden. Man muss sie nur lesen können.
Bald kommt Hildegard in die Schule, lernt Buchstaben und Laute zu lesen und entdeckt, dass sie eine wirkliche Bedeutung haben. „Wort und Ding mussten aufeinander liegen, dann hatte der Wortlaut einen Sinn… Die Laute ließen sich von dem, was sie ausdrückten, nicht mehr trennen, Laut und Sinn durchdrangen einander für immer.“
Ich weiß noch: als ich diesen Abschnitt zum ersten Mal las, habe ich den Atem angehalten. Zu sehr erinnerte mich die weltstürzende Entdeckung der jungen Hildegard an den Beginn des Johannes-Evangeliums: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht… Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“.
Das Wort ist bedeutend mehr als Buchstaben. Es erschließt Wirklichkeit und erschafft Welt. Das Wort, auf Griechisch: der Logos, ist tief verbunden mit seinem Sinn. Wort und Welt „liegen aufeinander“. So kann Johannes denken, dass Gottes Wort Fleisch wird, leibhaftig und begreifbar.
Wir können von den Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben, in der Bibel lesen. In Buchstaben und Lauten. Wir können aber auch an Jesus viel ablesen: wie Gott für die Menschen da ist, sie heilt und gute Worte spricht. Jesus ist wie ein Buch-Mensch, in dem Gott sich in die Welt hineinspricht und einschreibt. Buchstabe und Laut und Sinn und leibhaftige Erfahrung liegen aufeinander.
An diesem Wochenende erfreue ich mich an den Poetischen Quellen, an den Worten und Büchern, die mich die Wirklichkeit anders sehen und neu verstehen lassen. Und am Literaturgottesdienst, der Wortlaut und Sinn und Gott aufeinander liegen lässt. Ich glaube, der liebe Gott wird auch da sein. Lommer jonn!
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